• Zäh und Dunkel Mara Samsara © 2020 Mara Samsara mara-samsara@gmx.ch with gratitude to my editor R.C. Smith All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, distributed, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, including photocopying, recording, or other electronic or mechanical methods, without the prior written permission of the author. The Dunyazad Digital Library www.dunyazad-library.net The Dunyazad Digital Library, named in honor of Shahrazad’s sister, gives you classical books (and the occasional modern one) in PDF format, professionally proofread, edited and typeset. The PDF format allows for a careful design of lines and pages, resulting in a more pleasant reading experience than the necessarily random line and page breaks of other e-book formats. A reading device with a screen size of 8 inches or more is recommended. All the books in the Dunyazad Digital Library are also available as plain text and ePub files. 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Das Pseudonym Mara Samsara ermöglicht der Autorin, Gedanken und Geschichten (auch abseits der Dunyazad Digital Library) zu veröffentlichen, deren Zuschreibung zu ihrem Klarnamen die Gesellschaft nicht billigen würde. Die Autorin widmet sich Ängsten, Begierden, Schmerzen und Leidenschaften, Tabus und Hoffnungen, die die Wenigsten in sich selbst zulassen wollen und denen sie doch nicht entrinnen können. Wie so viele Werke, entspringt auch ein Gutteil der Texte Mara Samsaras persönlichen Erfahrungen, die sie – neben einem ungesunden Maß an Selbstreflexion – durch Schreiben zu verarbeiten versucht. Lesen heißt, in Gedankenwelten anderer zu wandern. Auch wenn Mara Samsara nicht mehr weiß, wem dieser Aphorismus zuzuschreiben ist, so anerkennt sie seine Wahrheit. Ihre Texte versteht sie dabei als Annäherung an die Realität. Der wahre Schmerz, die echte Begierde existiert nur im Augenblick. Und doch gibt sich Mara Samsara dem Ideal hin, mit bloßen Worten zu erfassen, was dem Geiste vorbehalten ist. Die Autorin ist unter mara-samsara@gmx.ch gerne für einen Gedankenaustausch bereit. Insbesondere hinsichtlich jener Gedanken, die den dunklen Wirrungen des Geistes entspringen. • Inhalt Eins Zwei Drei Vier Fünf Sechs Sieben • Eins Die Hufe der Ochsen sanken tief. Nur mit Mühe vermochten sie genug Halt zu finden, die schweren Karren durch den Schlamm zu ziehen. Regen hatte die Lande aufgeweicht und zu einer grauen Öde verwaschen. Viele Monde schon hielt ein Nebel, drohend und dicht wie der Rauch von tausend Signalfeuern, die Sonne gefangen. Ohne ihre wärmende Kraft waren die Äcker, und mit ihnen die Gemüter, erkaltet. Abermals ließ Brodin den Stock auf seine Tiere niedergehen. Er trieb sie an, um die rettenden Mauern zu erreichen. Den Ort, an dem es noch Hoffnung gab. Zumindest dachten das die Leute, die sich auf ihrem Weg zu diesem armseligen Zug zusammengeschlossen hatten. Im Osten gab es noch Hoffnung. Es musste einfach so sein. »Du wirst dem Ochsen noch eine Wunde schlagen.« mahnte Firssa. Sie hockte auf dem Karren inmitten der wenigen Habseligkeiten, die es wert gewesen waren, auf die Reise mitgenommen zu werden. Die Kapuze ihres Mantels vermochte keinen Regen mehr abzuhalten, sie war nass wie ein Fisch im Teich. »Wir müssen uns sputen.« sagte Brodin, »Unsere Vorräte gehen zu Ende. Und der Regen wird stetig schlimmer.« Weiter hinten waren aufgeregte Rufe zu hören. Vielleicht war eine Achse gebrochen, vielleicht jemand erschöpft in den Schlamm gesunken. Es gab kein Zurück, lediglich den Pfad vor ihnen und das rettungsverheißende Ziel, dem sie entgegenstrebten. Jeder hatte seinen eigenen Weg zu meistern. Unbeirrt trieb Brodin die Ochsen weiter an. Sie passierten einen Karren. Das eine Rad war bis zur Nabe in einem Wasserloch versunken. Vergeblich mühten sich die Esel, den Karren heraus zu ziehen. Nicht einen Blick verschwendete Brodin auf seine steckengebliebenen Landsleute. Doch Firssas Augen hafteten halb unter der triefenden Kapuze verborgen an den Leuten, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Der Zug trottete weiter. Unaufhaltsam. Nach einer Weile wurde der Weg steiniger. Der Regen konnte den Boden hier nicht so stark aufweichen, dafür schaukelte Firssa auf dem Karren unentwegt hin und her. Kaum konnte sie die zum Teil lose verstauten Habseligkeiten zusammenhalten. Eine Schüssel fiel vom Karren. Sie landete am Rand des Weges mitten im nassen Gras. Firssa unternahm nichts und ließ Brodin den Karren weiter ziehen. Hinter ihnen schien niemand von der Schüssel Notiz zu nehmen. Ab und an waren Reiter zu sehen. Manche trugen das stolze Wappen, das innerhalb der Mauern auf Bannern und Standarten wehte, deren Schutz sie alle zu erreichen versuchten. Die Insignien der Königin Lumissa, Herrscherin über diese Lande. Ein stiller Seufzer drang über Brodins Lippen. Welchen Wert mochten diese Lande noch besitzen? Lumissa, eine Herrscherin ohne Reich. Nur Dalgur war verblieben, jene Stadt im Osten, wo Lumissas goldschwerer Thron von dicken Mauern gesichert war. Der Zug schob sich an einen Wald heran. Der Weg hinein erschien wie ein Tor in die Dunkelheit. Mächtige Eichen und Eschen verengten den Pfad zu einem Loch in dräuende Tiefen. Das nasse Blätterdach trübte das wenige Tageslicht zu einem Halbdunkel. Der Regen verging, doch schwere Tropfen hämmerten auf Karren und Häupter. Brodin blickte sich um und wechselte einen kurzen Blick mit Firssa. Er trieb die Ochsen kräftiger als zuvor. Firssa ließ ihn gewähren, ihr war der Wald nicht geheuer. Hier schien die Dunkelheit zu herrschen. Jene Dunkelheit, der sie einen halben Mond zuvor entflohen waren. Auf einmal drang ein warmer Geruch in ihre Nasen. Durch den feuchten Waldesnebel zwängte sich Rauch. Soldaten der königlichen Armee hatten ein Feuer entfacht, über dem ein unförmiger Klumpen Fleisch briet. Aufgespießt auf einer Lanze, langsam gedreht von einem der Soldaten, briet das Fleisch über den Flammen. Es musste ein Außenpostens Dalgurs sein, die Hauptstadt war wohl nicht mehr fern. Aber was vermochte dieser Posten schon abzuhalten? Drei kleine Barracken waren schüchtern zwischen dicke Stämme gezimmert. Durch das Dach über dem Lagerfeuer tropfte Wasser. Wie ein Lumpen hing die Standarte um einen Baum gebunden. Sie zeigte das Wappen der königlichen Garde. Einst Ehrfurcht gebietend war sie nun zu einem Zeichen des Zerfalls verkommen. Mit leeren Augen starrten die Soldaten den Karren nach, wie sie gen Osten weiterzogen. Nach vielen tausend Schritten öffnete sich der Wald zu weiten Feldern. Traurig hingen die Ähren im Regen, Wind peitschte über die Äcker. Brodin zog die Kapuze tief ins Gesicht, doch er vermochte das Trommeln der Regentropfen nicht abzuhalten. Der Abstand zum Wagen vor ihnen vergrößerte sich, gut zwei Dutzend Schritte betrug er nun. Fluchend drängte Brodin seine Ochsen, schneller zu gehen. Sie mussten die Mauern erreichen noch ehe die Dunkelheit über sie hereinbrach. Keine weitere Nacht wollte er mit Firssa im Freien verbringen müssen. Der Weg führte wie mit einer Schnur gezogen geradeaus. Ein Acker glich dem anderen, von ihren Bauern verlassen waren sie der Wildnis preisgegeben. Ein Baum kam in Sicht, die einzige Wegmarke seit langem. Wahrscheinlich hatte er den Bauern als Grenzzeichen ihrer Felder gedient. Ein alter Baum. Seine Äste waren knorrig, seine Borke brüchig, seine Blätter aber noch satt. Doch vielleicht schien es im Regen nur so. Die Nässe ließ alles satter wirken, selbst Gesichter. Plötzlich sah Firssa, wie Brodin vor den Ochsen vorbei und hin zum Baum eilte. Sie lugte über den Rand des Karrens und erblickte eine Gestalt unter dem Baum. Brodin beugte sich über sie. »Komm, du kannst bei uns auf dem Wagen mitfahren. Wir haben wärmende Decken.« sagte er zu der Gestalt. Die Ochsen stapften weiter den Weg entlang. Als der Wagen hinter ihnen am Baum ankam, sah Firssa, wie Brodin die Gestalt aufhob und mit ihr im Arm zurück eilte. Es war eine junge Frau. Brodin legte sie hinten auf den Karren und schob sie ein Stück zu Firssa hin, damit sie bei der ruckeligen Fahrt nicht wieder hinunterfiel. »Was machst du, Brodin?« fragte Firssa mit Schärfe in der Stimme, »Wir müssen uns um uns selbst kümmern.« »Sie ist doch noch ein halbes Kind.« sagte Brodin und wischte sich den Regen aus dem Gesicht, »Sie ist halb erfroren, bedecke sie mit dem warmen Wolfsfell.« »Den Teufel werde ich tun! Soll ich ihr vielleicht auch noch von unseren wenigen Vorräten reichen?« »Wenn wir sie hier in der Nässe liegenlassen, wird sie sterben, Firssa.« sagte er, »Ich weiß, die Dunkelheit hat uns erst vor zwei Monden unsere Dansala genommen. Aber sie hier können wir noch retten. Lass dein Herz nicht erkalten, Liebste.« Der Karren wurde langsamer. Die Ochsen benötigen wieder seinen Stock, um schneller voranzukommen. Firssa besah die junge Frau vor ihr auf dem schaukelnden Boden des Karrens. Ihre Kleider waren dreckig und zerrissen. Ihre Hosen aus einem Leder genäht, so dunkel, als wäre es in Pech getaucht worden. Der nasse Mantel, in den sie gewickelt war, war der eines Mannes, die Schultern waren zu breit für zarte Frauenkörper. »Woher kommst du?« fragte Firssa. Die Frau starrte auf einen Punkt jenseits des Horizonts. Ihre blauen Lippen zitterten. »Hast du einen Namen?« Keine Reaktion. »Nun gut.« seufzte Firssa und drehte sich um. Das Wolfsfell war viel zu gut für diese Frau. Für Dansala wäre es recht gewesen, gerne hätte sie ihre Tochter darin eingewickelt und warm und trocken gehalten. Nicht jedoch dieses Weib. Sollte sie bis Dalgur überleben, musste sie allein zurechtkommen. Brodin und Firssa mussten sich um sich selbst kümmern. ~ Die Dämmerung kroch über die Lande. Bedächtig kam sie dem Zug entgegen und ragte immer weiter empor, wie ein schwarzer Schleier. Doch sie würden der Nacht nicht anheimfallen, nicht allzu fern leuchteten Feuer. Sie mussten Dalgur erreicht haben, die rettenden Mauern. Sie mussten einfach. Brodin sah zu Firssa zurück. »Sieh doch! Wir haben es geschafft!« rief er. Firssa nickte nur. Sie war der Erschöpfung nahe, obwohl sie beinahe den gesamten Weg auf dem Karren verbracht hatte. Die junge Frau hinter ihr auf dem Boden rührte sich nicht. Eine Welle des Glücks trieb den gesamten Zug voran. Gut zwei Dutzend Wagen hatten es geschafft. Peitschen und Stöcke schwingend vergaßen die Flüchtenden die kalte Nässe und strebten den Mauern entgegen. Die Wache hatte den Zug bereits erspäht und die schweren Eisentore öffnen und die Zugbrücke senken lassen. »Gleich, Liebste, gleich sind wir in Sicherheit!« rief Brodin. Doch alsbald erschallte ein Ruf und ließ den Zug erstarren. »Haltet ein!« befahl eine Stimme, die keinen Widerstand duldete, »Ein Wagen nach dem anderen wird durchsucht und eingelassen. Einer nach dem anderen! Dies sind die Mauern Dalgurs, erhabener Sitz unserer Königin Lumissa. Waffen sind innerhalb dieser Mauern nicht geduldet. Wer aufbegehrt, wird den Stahl der Garde schmecken!« Brodin brachte seine Ochsen zum Stillstand. Er überlegte, ob sie irgendetwas mitführten, was als Waffe gelten konnte. Er besaß weder Schwert noch Dolch, auch kein Beil. Lediglich ein paar Messer, doch diese dienten der Arbeit und der Küche. Dagegen konnte die Garde nichts einwenden. Die Nacht schwappte über die Häupter. Noch waren sie nicht innerhalb der Mauern, aber sie standen bereits unter ihrem Schutz. Hier, kurz vor der Zugbrücke, waren sie sicher. Die Garde durchsuchte jeden Wagen und befragte jeden der Flüchtigen. Sie ließen sich Zeit. Niemand, welcher der Dunkelheit war, durfte Einlass erhalten. Nur mehr ein Wagen war vor ihnen. Unruhig verlagerte Brodin das Gewicht von einem Bein auf das andere. Firssa hockte starr auf dem Karren. Hier war die Garde noch stolz und mächtig. Die Rüstungen glänzten im Schein der Fackeln, die Standarte wehte erhaben am Tor. Wachen hatten ihre Schwerter gezogen, hinter Schlitzen ihrer Helme hielten ihre grimmigen Augen die Wartenden im Blick. »Weiter! Nächster!« rief der Hauptmann. Brodin zog seine Ochsen voran. Das Tor war so breit, dass zwei Karren nebeneinander darin Platz fanden. Eine Phalanx aus Gardesoldaten versperrte mit gesenkten Lanzen den Weg. Hinter dem Wagen bezogen Schwertträger Stellung. Der Hauptmann umrundete den Karren. Sein Helmbusch aus rot gefärbtem Rosshaar wogte bei jedem Schritt. »Woher kommt ihr?« fragte er. Brodin räusperte sich. »Aus Gar Ontona.« antwortete er. »Führt euer Weg euch direkt hierher?« »Ja, Hauptmann.« Auf ein Zeichen des Hauptmanns hin schwangen sich zwei Soldaten auf den Karren und begannen, die Habseligkeiten zu durchsuchen. »Führt ihr Waffen mit?« fragte der Hauptmann und blieb so nahe vor Brodin stehen, dass dieser unwillkürlichen einen halben Schritt zurückwich. »N ... Nein. Wir ha–« »Was wollt ihr hier in Dalgur?« »Nun, wir suchen Schutz. Wir sind vor der Dunkelheit gefl–« »Warum sollten wir ausgerechnet euch einlassen? Die Stadt ist bereits voll mit Flüchtlingen.« Brodin schluckte und suchte nach Worten. Wollten sie ihnen tatsächlich die Zuflucht verweigern, deretwegen sie hierher geflohen waren? War der beschwerliche Weg umsonst gewesen? Die anderen Karren hatten sie doch auch eingelassen. »Mein Mann kann kämpfen und ich die Truppen versorgen.« antwortete Firssa für Brodin, »Wenn Sie uns fortschicken, sind wir des Todes. Eine weitere Nacht dort draußen überstehen wir nicht.« Der Hauptmann vernahm es, ohne Firssa eines Blickes zu würdigen. Stattdessen ging er zur Rückseite des Karrens und wandte sich an die beiden Soldaten, die ihn durchsuchten. »Etwas gefunden, Männer?« fragte er. »Nein Hauptmann. Keine Waffen, nichts Verdächtiges. Nur einen Säckel mit Bronzemünzen.« »Die Münzen sind beschlagnahmt.« sagte der Hauptmann, »Was ist mit ihr?« Er deutete auf die junge zitternde Frau, die immer noch auf dem Boden des Karrens lag. Brodin kam eiligen, aber nicht zu hastigen, Schrittes herbei. »Sie ist erschöpft. Die Reise hat sie sehr mitgenommen.« sagte er. »Gehört sie zu euch?« »Ja.« sagte Brodin, »Sie ist unsere Tochter.« Firssa blickte zu Boden, um ihre Überraschung und ihren Ärger zu verstecken. Und die Gefahr, in die Brodin sie gerade gebracht hatte. Die Männer stiegen vom Karren und bezogen wieder ihre Positionen. Der Hauptmann ging auf und ab und besah die reglose Frau. Sie lag mit dem Rücken zu ihm, so konnte er ihre zitternden Lippen nicht bemerken. Erst jetzt fiel Brodin auf, dass Firssa das Wolfsfell nicht über die Frau gelegt hatte, so wie er sie gebeten hatte. In ihrem durchnässten Mantel lag sie da wie ein Bündel Fetzen. Er suchte ihren Blick, aber sie hatte sich abgewandt. »Nun gut. Fahrt hinein. Die Wache wird euch einen Platz für euren Karren weisen.« sagte er Hauptmann schließlich, »Macht hin! Weiter! Die Nächsten!« Die Lanzenträger gaben den Weg frei. Brodin zog die Ochsen hinein nach Dalgur, hinein in die schützenden Mauern. Vom Platz hinter dem Tor führte bloß eine einzige schmale Gasse in die Stadt hinein. Ein Wachmann erwartete sie und führte Brodin durch halb Dalgur. Die Wege waren mit Kopfsteinpflaster ausgelegt, die meisten Häuser besaßen Fenster aus Glas und waren nicht bloß mit Fetzen verhangen. Die meisten Gassen waren von Fackeln erleuchtet. Trotz der späten Stunde waren überall Leute zu sehen. Stadtluft macht also doch frei, schmunzelte Brodin zu sich selbst. Hier mussten sie keine Angst mehr haben. Sie gelangten zu einem weniger sauberen Bereich der Stadt. Ein übler Geruch stieg Brodin und Firssa in die Nase. Hier trugen die Leute einfache Kleider, viele waren schmutzig und zerrissen. Manche hatten ihre Behausungen in kleinen Holzhütten in Hausecken aufgeschlagen, manche hatten sich aus Fetzen selbst ein Dach über dem Kopf genäht. Schließlich erreichten sie die Stallungen. Nicht nur die Pferde der Armee wurden hier gehalten, sondern auch Nutzvieh zur Verpflegung der Bevölkerung. »Da vorne, neben dem Kuhstall, könnt ihr euren Karren abstellen.« sagte die Wache und machte sich auf den Rückweg. »Und ... Und wo sollen wir schlafen?« fragte Brodin. Die Wache gab keine Antwort und ging einfach fort. »Unter dem Karren, wie wir das auch draußen getan haben.« antwortete Firssa an seiner Statt. Sie sprang vom Wagen und streckte sich. Brodin machte ein unglückliches Gesicht und wusste nicht, was er nun tun sollte. »Hast du etwa gedacht, die Königin lädt uns zu ihrer Tafel ein?« sagte Firssa, »Mach die Ochsen los und gib ihnen zu saufen und fressen. Ich kümmere mich um unsere Bettstatt.« »Das Mädchen!« entfuhr es Brodin plötzlich. Er lief hinter den Wagen, wollte sich auf die Ladefläche schwingen und hielt inne. »Wo ist sie hin?« rief er, »Firssa! Wo ist sie hin?« Firssa seufzte und machte die Ochsen selbst los. Brodin kam herbei und rüttelte sie an der Schulter. »Warum hast du sie gehen lassen?« Der Vorwurf in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Ich habe gar nichts getan. Ich weiß nicht, wo sie hin ist. Als ich vom Wagen gesprungen bin, war sie noch da.« »Ach!« Brodin blickte sich um. Er rannte um die Ecke und spähte die Gasse entlang. Keine Spur von der jungen Frau in dem nassen Mantel. »Geh endlich und besorge Futter für die Tiere!« rief Firssa, »Wenn sie laufen kann, dann kann das Weibsstück auch selbst auf sich aufpassen!« Brodin warf die Arme in die Luft und verschwand in den Stallungen, um Wasser und Futter zu erbitten. • Zwei Aife zog den Schlüssel aus ihrer Tasche aus Pferdeleder, spuckte auf die Gasse, und entsperrte das massive Schloss zu ihrem Gasthaus. Es waren bloß zwei Räume, die durch einen breiten Durchgang miteinander verbunden waren und in denen auf einem groben Steinboden eine Handvoll Tische und zwei Dutzend Hocker herumstanden. Rund um die Feuerstelle befand sich ein schmaler Tresen, den man mit viel Fantasie als so etwas wie eine Küche bezeichnen könnte. Aife mochte ihr Gasthaus, auch wenn dies ein großer Name für diese schäbige Kaschemme war. Den ganzen Tag hatte sie im Palast Wäsche gewaschen, Böden geschrubbt und Gemüse gehackt. Nun, kurz vor Einbruch der Dämmerung, kehrte sie in ihr Gasthaus zurück, um erschöpften Frauen und Männern Wein und Brot zu servieren. Das namenlose Gasthaus war weit über die Schmiedgasse hinaus bekannt. Aife war stets für einen starken Spruch zu haben und tischte die aberwitzigsten Geschichten auf. So hätte sie angeblich einen Eber mit bloßen Händen, nein nur mit der linken Hand, erwürgt, weil sie den Weinkrug in der rechten Hand nicht fallen lassen wollte und das Schlachtmesser gerade nach einer Ratte geworfen hatte, die größer als ein Esel und Pferd zusammen gewesen sei. Die Gassen und Wege Dalgurs trugen keine Namen. Keine offiziellen, denn wer hier wohnte, fand sich früher oder später auch so zurecht. Manche Gassen wurden auf bestimmte Weise bezeichnet, weil dort bestimmte Menschen hausten, Orte lagen oder Gewerbe betrieben wurden. So gab es die Brunnengasse (gleich ein Dutzend davon), und die Schmiedgasse, in der Schmiede ihre Eisen formten. Als Aife ihr Gasthaus aufsperrte, waren die Essen noch befeuert und die Hämmer gingen eifrig auf die glühenden Klingen hernieder. Aife ließ die Tür offen, die Gäste konnten kommen. Die ersten würden bald erscheinen, Dalgurs Arbeiter hatten Durst und Hunger. Wie immer ging Aife zum Tresen, um die Eimer zu holen, mit denen sie am Brunner Wasser schöpfen musste. Zum Abwaschen, Putzen, Kochen und Trinken. Zumindest sie selbst trank ausschließlich Wasser und keinen Alkohol. Als sie um den Tresen ging, erblickte sie eine Gestalt am Boden. Eine junge Frau, eingehüllt in einen viel zu großen dreckigen Mantel. Auf dem Boden, neben der Frau, lagen Brotkrümel und eine halbe Schnitte Speck. »Das Miststück hat sich an meinen Vorräten bedient.« grummelte Aife. Sie stieß die Frau mit der Fußspitze an den Knöchel. »He, aufwachen!« rief sie und zuckte sogleich zusammen. Die junge Frau wachte nicht bloß auf, sie riss die Augen auf, stieß einen Schrei aus und kroch über den Steinboden, um prompt gegen die Theke zu stoßen. Dort rollte sie sich zusammen und starrte Aife an, als wollte diese sie lebendig verspeisen. »Ganz ruhig, Kleine!« Aife hob beschwichtigend die Hände, »Ganz ruhig. Ich tue dir nichts.« Die junge Frau sah sich um. Langsam schien sie zu begreifen, wo sie sich befand. Sie hockte sich hin und umschlang die Beine mit den Armen. »Du hattest ganz schön Appetit, was? Hast beinahe einen ganzen Laib Brot gegessen. Und ein stolzes Stück Speck. Weißt du, wie viel mich das kostet?« Die Frau starrte Aife wortlos an. »Wie bist du hier überhaupt reingekommen? Die Tür war abgeschlossen, als ich gerade gekommen bin. Bist du etwa eine Diebin?« Die Frau bemerkte den drohenden Unterton in Aifes Stimme und erhob sich. Langsam, als würde sie einem Raubtier gegenüberstehen. »Schon gut. Ich tu dir nichts. Hab ich doch gesagt, oder?« sagte Aife, »Lass dich nicht nochmals erwischen. Mit Dieben machen sie normalerweise kurzen Prozess. Wie heißt du, Kleine?« Aife trat näher, um die Eimer zu nehmen. Da machte die junge Frau einen Satz und wollte über die Theke springen. Sie war flink wie eine Katze, doch Aife war schneller. Sie packte die Frau am Arm und hielt sie zurück. Aife mochte keinen Eber erwürgt haben, aber aus ihrem Griff vermochte sich auch so mancher Recke nicht herauszuwinden. »Schön hiergeblieben, Kleine!« rief Aife, »Wenn du mir schon Speck und Brot nimmst, dann musst du dafür auch was tun.« Die Frau versuchte sich loszureißen, gab jedoch rasch auf. »Du nimmst nun diese Eimer und holst Wasser beim Brunnen. In Ordnung? Dann hilfst du mir hier in der Gaststätte ein wenig aus, und um Mitternacht, wenn ich zusperre, kannst du dich bei mir zu Hause waschen. Du bist dreckig wie vier Säue. Aber bevor du gehst, verrätst du mir noch deinen Namen. Ich bin Aife.« Die Frau rieb sich den Arm, wo Aife sie gehalten hatte. Ihre Lippen öffneten sich ein Stück, aber Worte mochten ihnen nicht entweichen. »Du kannst ihn mir auch nachher verraten, wenn du willst. Hol erstmal Wasser.« Aife drückte der Frau die Eimer in die Hand und schob sie bei der Tür hinaus. Natürlich könnte sie mit den Eimern verschwinden. Oder nächste Nacht nochmals einbrechen und Brot und Speck stibitzen. Seit die Dunkelheit über die Lande hereingebrochen war, gab es viele wie das namenlose Mädchen. Sie hausten auf den Straßen und schlugen sich von Tag zu Tag durch. Was brachte es, das Mädchen der Wache zu übergeben oder ihr eine Tracht Prügel zu verabreichen? Die Menschen mussten zusammenhalten. Sonst erlosch das Licht für immer. Aife richtete die Stühle und schnitt das restliche Brot auf. Ein Mann betrat die Gaststätte. »Man hat mir gesagt, ich bekäme hier Wasser und Brot.« sagte er. »Auch Wein.« sagte Aife, »Nehmt doch Platz.« »Ich habe nicht viel Geld. Reicht das?« Der Mann hielt Aife auf seiner Handfläche drei Kupfermünzen hin. »Brot und Speck bekommst du davon nicht viel. Und Wein auch bloß einen Becher.« »Das genügt mir.« Aife füllte Wein in einen Holzbecher und belegte eine Scheibe Brot mit einer Schnitte Speck. »Woher kommst du? Ich habe dich hier noch nie gesehen.« fragte sie. »Aus Gar Ontona. Ich bin gestern Abend mit meiner Frau angekommen.« Aife rechte ihm Brot und Wein. »Gar Ontona, wie? Hier kommen jeden Tag Leute aus allen Ecken des Reiches an. Die meisten aus dem Westen.« Der Mann verschlang das Brot mit wenigen Bissen. Den Wein trank er in einem Zug halb leer. »Hast du Arbeit gefunden?« fragte Aife. »Ich helfe in den Stallungen aus. Mit Tieren kenne ich mich aus. Wir hatten Kühe, Schafe und Ziegen. Und ein paar Felder.« Wortlos nickte Aife. Sie hatte zu viele Geschichten von Geflohenen gehört, um noch Anteil zu nehmen. Sie blickte zur Tür und lächelte. »Ah, du bist zurück.« sagte Aife, »Danke, stell die Eimer bitte hier ab.« Der Mann verschluckte sich beinahe am Wein. »Hier bist du also gelandet!« rief er, »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, als du gestern einfach verschwunden bist.« Aife blickte zwischen dem Mann und der jungen Frau hin und her. »Du kennst sie?« fragte Aife. »Ja.« sagte Brodin, »Nun, nicht wirklich. Wir haben sie gestern am Weg nach Dalgur am Straßenrand aufgelesen. Sie ist halb erfroren unter einem Baum gelegen.« Die junge Frau stellte die Eimer neben Aife hinter die Theke und sprach weiterhin kein Wort. »Ich bin froh, dass es dir gutgeht.« sagte Brodin, »Hilfst du hier aus?« Wieder öffnete die junge Frau die Lippen. Sie schien etwas sagen zu wollen, und gleichzeitig Angst vor ihrer eigenen Stimme zu haben. »Sie spricht nicht viel.« sagte Aife, »Sie hat von meinem Brot und Speck genommen, und dann habe ich sie dazu verdonnert, mir zum Dank heute Abend hier auszuhelfen.« »Verstehe. Sei nicht zu streng mit ihr, sie hat wahrscheinlich tagelang nichts zu sich genommen. Ich bin Brodin. Wie heißt du denn, Kleine?« Die junge Frau sah in den anderen Raum hinüber, als würde ihr Name bei der Tür hereinkommen und sich um ihre Lippen legen. »Ist schon gut.« meinte Brodin, »Du hast wahrschei–« »I ... Ich ...« begann die junge Frau, »Ich ... Früher haben sie mich Erinya genannt ... Denke ich.« Aife runzelte die Stirn. Viele Geflüchteten sprachen mit leerer Stimme von den Gräueln, die sie hier nach Dalgur getrieben hatten. Doch in der Stimme dieser Frau lag nichts als Kälte. Und eine Gleichgültigkeit, als spräche sie über längst vergangene Geschehnisse. Brodin stellte seinen Krug ab. »Woher kommst du?« fragte er. Erinya schien sich erst daran erinnern zu müssen. Ein langer Moment des Schweigens machte sich breit, ehe sie antwortete. »Aus Chamran.« sagte sie schließlich. »Aus Chamran?« platzte es aus Brodin heraus, »Das ... Niemand konnte aus Chamran fliehen. Es ist als erstes gefallen und ...« Aifes strenger Blick brachte ihn zum Verstummen. »Ich komme aus Chamran.« wiederholte Erinya und sah an einen unbestimmten Punkt an der Wand. »Komm. Setz dich doch und nimm einen Krug Wasser, das wird dir guttun.« sagte Aife. »Nein.« sagte Erinya. »Keine Widerrede.« meinte Aife wohlwollend, »Ich schmeiße den Laden allein, du brauchst nicht zu helfen. Und um Mitternacht kommst du dann mit zu mir nach Hause. Dort kannst du dich waschen und hast einen warmen Platz zum Schlafen.« Aife griff Erinya am Arm und wollte sie zu einem Hocker führen, doch dieses Mal riss sich Erinya los und schlug dabei Aife beinahe den Wasserkrug aus der Hand. »Nein.« sagte sie tonlos, »Ich muss gehen.« Verdutzt sahen Aife und Brodin ihr nach, wie sie die Gaststätte verließ. Brodin leerte seinen Krug und eilte hinterher. »So warte doch! Wo willst du denn hin? Du kennst hier doch niemanden.« rief er. Wortlos passierte Erinya die Schmiedewerkstätten in der Gasse. Sie kümmerte sich nicht um Brodin, der neben ihr herlief und auf sie einredete. »Komm doch mit zu uns. Wir kümmern uns um dich.« sagte er. »Dalgur ist viel zu gefährlich für eine junge Frau wie dich.« mahnte er. »Du kannst doch nicht in den Gassen leben! Hier kann dir wer weiß was passieren.« sorgte er sich. Schließlich packte er sie am Arm. »Erinya!« rief er, »Du musst mitkommen! Ich kann dich nicht allein lassen!« Ihre Blicke trafen sich. Erinyas Augen waren wie Brunnen, aus deren Tiefen etwas hervorkam, was Brodin nicht zuordnen konnte. Er wusste nur, es würden keine Tränen sein. »Lass von mir ab.« sagte sie. Brodin bemerkte den Anflug von Angst in ihrer Stimme. Aber nicht um sich selbst. »Du hättest mich nicht hierher bringen sollen.« sagte Erinya und ließ Brodin mitten auf der Gasse stehen. Seine Hand löste sich sanft von ihrem Arm, als sie sich aufmachte. Er ließ sie ziehen und sah ihr nach, bis sie um die Ecke verschwunden war. ~ Orientierungslos wanderte Erinya durch Dalgur. Die Stadt war um ein Vielfaches größer als Chamran es gewesen war. Rund um den königlichen Palast hatten sich Verwaltung und Reichtum versammelt. Adel und Bürgertum gediehen hier auf dem Rücken der Arbeiter und Bauern. Doch auch sie würden fallen. Sie alle. So wie die vielen anderen, die bereits der Dunkelheit anheimgefallen waren. So wie Chamran. Auch wenn sie ihr keinen Glauben schenkten, sie kam von dort. Sie hatte das Grauen gesehen. Sie hatte es gespürt. All die Schmerzen und das Leid. Die Dunkelheit war nicht die Abwesenheit von Licht. Sie hielt Dinge, die nicht für die Augen bestimmt waren. Ein beladener Karren kam Erinya entgegen. Kästen, Stühle, ein Teppich und ein paar Säcke. Wohl wieder Geflohene, die die rettenden Mauern erreicht haben. Erinya war auf dem richtigen Weg. An mehr und mehr Soldaten kam sie vorbei. Viele trugen prächtige Rüstungen und geschmückte Schilde und Helme. Es musste die Garde der Königin Lumissa sein. Wussten sie nicht, dass Stahl die Schwärze nicht schnitt? Endlich kam Erinya zum Platz vor dem Haupttor der Stadt. Die massiven Torflügel, höher als fünf Recken, waren geschlossen und mit einem Balken, dick wie ein Baumstamm, gesichert. Erinya sah sich um. Hier hielten sich ausschließlich Soldaten auf, einfache Bürger hatten hier nichts zu suchen. Was gab es hier auch schon zu tun? Mit dem Fall der Lande war der Handel zum Erliegen gekommen. Einzig die wenigen Flüchtenden, die der Dunkelheit jetzt noch zu entkommen vermocht hatten, trafen noch hier ein und begehrten Einlass. Hier fühlten sie sich in Sicherheit. Diese Narren. Dachten sie fürwahr, Holz und Stein würden die Schrecken abhalten können? Ein Soldat schöpfte mit einer Kelle Wasser aus einem Fass, um sich zu erfrischen. Andere saßen an einer Mauer und brachen gemeinsam Brot. Nur oben zwischen den Zinnen der mächtigen Mauer waren die Soldaten in Bereitschaft und spähten angestrengt über die Lande. Erinya ging auf die Soldaten zu, die vor dem Tor Wache schoben. Erst als sie auf wenige Schritte herangekommen war, schenkten sie ihr Beachtung. »Was willst du, Mädchen?« »Hinaus.« Die Soldaten wechselten ratlose Blicke. »Du kannst nicht hinaus. Geh zurück zu deinen Eltern.« »Ich muss die Stadt verlassen. Bitte öffnet das Tor.« Nun lachte der Soldat. »Du bist wohl nicht bei Trost! Weißt du denn nicht, was draußen auf dich lauert? Verschwinde, Mädchen!« »Aber ich _muss_ hinaus! Bitte verstehen Sie doch, ich–« Die flache Hand des Soldaten in Erinyas Gesicht brachte sie zum Schweigen. »Zum letzten Mal. Verschwinde, Mädchen! Niemand verlässt die Stadt. Und du schon gar nicht.« Erinya konnte sich nicht dagegen wehren, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Ihre linke Gesichtshälfte brannte, der Soldat hatte mit Wucht zugeschlagen. Warum ließ er sie denn nicht gehen? Wenn er sie schon schlug, konnte er sie doch auch gehen lassen, was kümmerte es ihn schon. »Bitte!« flehte Erinya, »Bitte lasst mich gehen. Ich muss die Stadt verlassen, um un–« Dieses Mal war Erinya auf den Schlag vorbereitet. Dennoch warf er sie beinahe um. Ihre Haare flogen wild durcheinander, für einen Moment blieb ihr der Atem weg. Der Soldat stieß Erinya nach hinten. »Verschwinde! Los! Sonst versetze ich dir eine solche Tracht Prügel, dass dir Hören und Sehen vergeht!« rief er, »Warum willst du hinaus? Etwa, weil du eine Diebin bist und sie nach dir suchen? Wem hast du diesen Mantel gestohlen? Am besten, ich übergebe dich der Stadtwache. Los, Kameraden! Führt sie ab!« Der Soldat schnellte vor und wollte Erinya packen. Flink wich sie aus, er erwischte bloß den Ärmel des um ihre Schultern geworfenen Mantels. Drei Soldaten liefen herbei. »Nein! Lasst mich!« schrie Erinya. Ihr verblieb nur mehr die Flucht. Sie durften sie nicht erwischen. Es wäre das Ende. Sie wand sich aus dem Mantel und ließ ihn im Griff des Soldaten zurück. Sie rannte die Gasse zurück in die Stadt. Die Rufe der Soldaten schallten ihr hinterher. Erinya stieß gegen Passanten und zwängte sich an einem Fuhrwerk vorbei, das Weinfässer transportierte. Gleich die erste Abzweigung war gut genug. Je eher sie den Häschern aus dem Blick verschwand, desto größer waren ihre Chancen. Beinahe rutschte Erinya auf dem feuchten Steinweg aus. Sie nahm Abzweigung um Abzweigung. Im Zick-Zack-Kurs rannte sie durch Dalgur, bis ihre Lungen keuchten. Sie blieb stehen und ruhte sich etwas aus. Ängstlich sah sie sich um, keine Soldaten zu sehen. Aber noch war sie nicht in Sicherheit. Eine junge Frau zu dieser späten Stunde allein in den Gassen war leicht auszumachen. Erinya musste sich etwas einfallen lassen. Sie entdeckte zwei Fässer in einer Hausecke. Daneben lag ein halb vermoderter Heuballen. Plötzlich hörte Erinya Schritte. Schnelle Schritte. Gleich mussten sie um die Ecke kommen. Erinya sauste zu den Fässern. Sie hatte Glück, der Platz zwischen ihnen und der Hausmauer war breit genug, dass Erinya sich hinein zwängen konnte. So kauerte sie hinter den Fässern und lugte zwischen ihnen hindurch auf die Gasse hinaus. Wären nicht diese schnellen Schritte, alles wäre so ruhig und friedlich. Aus ein paar Fenstern drang mattes Flackern von Kerzenlicht. An einem Hauseingang erleuchtete eine Fackel die im beginnenden Abenddunkel versinkende Gasse. Immer näher kamen die Schritte. Gleich würde sich weisen, ob Erinya das Versteck gut gewählt hatte. Da bemerkte sie, wie sich die Gasse veränderte. Die Fenster begannen sich zu verdunkeln. Die Kerzen in den Häusern wurden nicht gelöscht, ein dunkler Schleier schien das Licht einzufangen, wie man mit einem Netz Glühwürmchen fing. Auch das Licht der Fackel wurde schwächer. Sie brannte nicht ab, es war, als würde es Teer auf die Fackel regnen. Moment um Moment wurde sie von Dunkelheit umfangen. »Oh, nein!« hauchte Erinya. Zum Klang der Schritte mischte sich nun das Klappern von Rüstungen. Drei Soldaten liefen in die Gasse hinein, sahen sich kurz um und setzten ihre Suche in jener Richtung fort, in der Erinya sich hinter den Fässern verborgen hielt. Plötzlich spürte sie etwas an ihrem Rücken. Er war an die kalte Hausmauer gepresst, doch etwas Warmes machte sich auf ihrem Rücken breit. Sie fühlte es auch mit der Hand, mit der sie sich am Steinboden abstützte. Ihre Finger wurden von etwas umschlossen, das sich wie warmer Schleim einer Schnecke anfühlte. Ein Geruch breitete sich aus, als würde neben Erinya ein toter Esel in sengender Sonne verrotten. »Nein! Bitte nicht!« flehte sie beinahe unhörbar, »Bitte nicht!« Durch den Spalt zwischen den Fässern sah sie die Soldaten. Sie liefen nicht mehr, aber raschen Schrittes durchmaßen sie die Gasse und überlegten, welchen weiteren Weg sie nehmen sollten. Sie passierten die Fackel im Hauseingang. Die Flamme war so groß wie zuvor, doch kaum noch strahlte sie Licht ab. Etwas tropfte von ihr auf den Boden und ließ Dampf vom Kopfsteinpflaster aufsteigen. »Geht weiter! Bitte geht einfach weiter!« flehte Erinya mit geschlossenen Augen. Ihr Rücken war beinahe durchnässt. Ihre Hand beinahe vollständig im Schleim versunken. Der Gestank unerträglich. Dann endlich hörte sie, wie die Schritte wieder schneller wurden. Die Soldaten liefen weiter. Bald waren sie um die nächste Ecke verschwunden. Erinya zwängte sich hinter den Fässern hervor und schüttelte den Schleim von der Hand. Der Heuballen war nun von einer dicken Schicht Schimmel überzogen. Die beiden Fässer so vermodert, dass sie kein Wasser mehr tragen würden. Hinfort! Einfach weg von hier! Erinya rannte so schnell sie ihre müden Beine trugen. Als sie fort war, gewann die Fackel nur allmählich ihre normale Kraft zurück. • Drei Es war ein guter Abend gewesen. Der Speck war aufgegessen, und vom Brot war auch nicht mehr viel übrig. Morgen, nach der Schufterei im Palast, müsste Aife Nachschub holen. Die Frage war bloß, wie lange Metzger und Bäcker noch Nachschub liefern konnten. Die Felder rings um Dalgur gaben nicht mehr viel her, und das Vieh verging von Tag zu Tag. Vielleicht vermochten ja die Al’Ankh Than etwas auszurichten. Jene heiligen Frauen und Männer, die gegen die Dunkelheit zu Felde zogen. Aife schüttelte den Kopf. Wozu sich den Kopf über Dinge zerbrechen, die ohnehin außerhalb ihres Einflusses lagen. Sie bedeckte das restliche Brot mit einem Tuch, verstaute die Eimer unter der Theke und suchte nach dem Schlüssel. Mehr gab es nach der Sperrstunde nicht zu tun. Wischen und Putzen wären vergebens, niemand in dieser Gegend der Stadt legte auf saubere Böden wert. Aife verließ ihre Gaststätte und sah sich kurz in der Gasse um. Die Schmiede hatten Feierabend gemacht, kein Hämmern war mehr zu hören. Ohne die Essen war die Gasse beinahe der Schwärze der Nacht versprochen, nur wenige Fackeln hellten hier die Wege. Niemand war zu sehen. Aife schloss ab und verstaute den Schlüssel in ihrer Ledertasche. Als sie sich umdrehte, um zu gehen, fuhr sie zusammen. Eine dunkle Gestalt, so groß wie sie selbst, nur viel schmäler, stand vor ihr. Sie war dreckig und stank. Und zitterte vor Kälte. »Erinya?« sagte Aife. Die Gestalt nickte stumm. »Was ist denn mit dir geschehen? Komm, wir gehen zu mir. Dort kannst du essen und dich waschen.« Einige Gassen weiter erreichten sie ein kleines Haus, das mit Holz auf einem steinernen Fundament errichtet worden war. Die Eingangstür führte direkt in einen großen Raum. Neben dem Kamin stand ein kleiner Kessel, zwei Stühle waren um einen runden Tisch arrangiert, in einem offenen Schrank lagen ein paar Bücher und Werkzeuge. »Setz dich. Ich mache gleich Feuer und setze Tee auf. Was ist denn mit deinem Mantel passiert?« sagte Aife. Erinya hockte sich beim Kamin auf den Boden, während Aife in eines der beiden anderen Zimmer verschwand. »Und warmes Wasser für ein Bad setze ich auch auf. Ich wollte selbst auch ein Bad nehmen, aber du hast es dringender nötig.« sagte Aife. Erinya hörte, wie sie mit Töpfen und Geschirr hantierte. Wenig später brodelte Wasser in einem Kessel über dem Kaminfeuer. Wohlige Wärme breitete sich im Raum aus. Aife reichte Erinya ein belegtes Brot, gierig verschlang sie es. Gestern Abend hatte sie das letzte Mal etwas zu sich genommen. Als sie die Vorräte in Aifes Gaststätte geplündert hatte. »Wo hast du dich denn herumgetrieben?« wollte Aife wissen. Erinya schluckte den letzten Bissen Brot hinunter. »In der Stadt.« sagte sie. »Mhm.« brummte Aife, »Ist in Ordnung, wenn du es mir nicht sagen willst. Stell nur keine dummen Sachen an.« Sie nahm den Kessel vom Feuer, gab eine Handvoll Kräuter hinein und bedeckte ihn mit einem Deckel. »So, der Tee ist bald fertig. Und nun machen wir das Badewasser warm.« Erinya blickte mit leeren Augen in den Kamin, wo die Flammen den an einem Haken hängenden Eimer umzüngelten. Wie flinke Schlangen krochen sie an ihn empor. Und wenn sie vergingen, krochen sofort neue nach. Feuer lebte. Es verzehrte und suchte stets nach neuer Nahrung. Aber man konnte es löschen. Nicht nur mit Wasser. Rasch waren drei Eimer voll gewärmt. Aife schüttete sie nacheinander in eine kleine Holzwanne, die sich im anderen Raum befand. Er war Badezimmer und Vorratsraum zugleich. Ein paar geräucherte Würste hingen an Schnüren, Getreide war in Säcken verstaut, Mehl in einer Holzkiste. »Hier hast du ein Handtuch.« sagte Aife, »Lass dir Zeit und mach dich gründlich sauber. Ich warte so lange beim Kamin.« Aife wollte gehen, doch sie hielt inne. »Und gib mir deine Kleider. Ich gebe dir welche von mir, bis wir deine im Fluss gewaschen haben.« »Ich habe sie selbst genäht.« sagte Erinya. Aife ließ ihren Blick über die junge Frau gleiten. »Wie du willst. Wenn du sie wieder anziehen möchtest, ist das deine Sache.« »Ich wasche sie hier in der Wanne.« meinte Erinya, »Und Morgen hole ich dir frisches Wasser vom Brunnen.« Aife nickte und ließ Erinya allein. Sie entkleidete sich und stieg in die Wanne. Das warme Wasser tat gut. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal ein warmes Bad genossen hatte. Eine Zeit lang hockte sie einfach in der Wanne und ließ sich von der Wärme umschmeicheln. Mit geschlossenen Augen horchte sie, was Aife drüben beim Kamin trieb. Das Wasser ließ ihre Haut weich werden. Allmählich löste sich der Dreck. Nur den eingetrockneten schwarzen Schleim bekam Erinya kaum ab. Sie musste so stark schrubben, dass sie sich beinahe die Haut aufriss. Als sie aus der Wanne stieg, war das Wasser so trüb, dass man kaum noch bis zum Boden sehen konnte. Gerade als Erinya sich das Handtuch schnappen wollte, kam Aife durch die Tür. »Sieh mal, ich habe noch etwas Duftwasser gefunden. Wenn du willst, kannst du ...« Als sie die unbedeckte Erinya erblickte, versagte Aife die Stimme. Hastig hüllte Erinya sich in das Handtuch ein. Es bedeckte ihren Oberkörper, die Beine ließ es frei. Und genau auf die Beine heftete sich nun Aifes Blick. Auch dort war die Haut von unzähligen Narben gezeichnet. Erinyas ganzer Körper war es, nur Hals und Kopf schienen verschont geblieben zu sein. »Mein Gott.« sagte Aife, »Mein Gott, Mädchen. Wer hat dir das bloß angetan.« Erinya schüttelte den Kopf. »Das ist nicht wichtig.« sagte sie, »Nicht mehr.« Aife stand in der Tür und wusste nicht, was sie machen sollte. »Es tut mir so leid.« sagte sie schließlich. »Das braucht es nicht.« Erinya begann sich abzutrocknen. Wenn Aife sie schon nackt gesehen hatte, spielte ihr Aussehen nun keine Rolle mehr. Der Rücken war von Striemen übersäht. Kreuz und quer gingen sie von Schulter zu Schulter, bis hinunter zum Steiß und Po. Es waren alte Narben. Aife fragte sich, wie jung Erinya gewesen sein musste, als ihr Martyrium begonnen hatte. »Lass mich bitte allein.« sagte Erinya, »Und bringe mir eine Decke. Wenn ich meine Kleider gewaschen habe, benötige ich etwas zum Einwickeln und Schlafen.« Aife starrte sie einfach nur an, wie sie ihre zernarbten Beine trocknete. Selbst im Schritt waren Narben zu sehen. Erinya hielt inne. »Lass mich allein!« zischte sie, »Ich brauche dein Mitleid nicht!« Eine der Kerzen im Raum erlosch, doch kein Rauch stieg vom Docht auf. Aife ließ Erinya allein. Als sie kurz danach die Decke brachte, öffnete sie die Tür nur einen Spalt und legte die Decke auf den Boden. • Vier Erinya verbrachte die Nacht in die Decke gehüllt vor dem Kaminfeuer. Aife hatte sich in den dritten Raum des kleinen Hauses zurückgezogen, wo sich ihre Schlafstatt befand. Nach dem Bad hatten sie und Erinya nur mehr wenige Worte gewechselt. Zu tief hatte sich das Bild der unzähligen Narben in Aifes Erinnerung gebrannt. Am nächsten Morgen ließ Aife Erinya nur ungern gehen. Das Angebot, den Tag doch hier im Haus zu verbringen, schlug Erinya aus. Aife hatte ihr jedoch das Versprechen abgerungen, um Mitternacht wieder hier zu sein. Dann würde sie von ihrer Gaststätte heimkommen und ein Nachtmahl für sich und Erinya bereiten. Nun streifte Erinya durch Dalgurs Gewirr an Gassen. Sie folgten keinem Muster, zumindest konnte sie keines erkennen. Die Wege wirkten, als hätte sie ein Betrunkener mit einem Stock in den Sand gezeichnet und sein Werk sodann als Bauplan der Hauptstadt verkündet. Ohne den Mantel fröstelte Erinya. Ein kalter Wind zog von Westen auf. Er kündete wohl von weit mehr als Kälte, was noch über die Stadt hereinbrechen sollte. Als die Glocken elf Uhr schlugen, erreichte Erinya einen großen Marktplatz. Hier wurde alles feilgeboten, was Dalgurs Händler zu bieten hatten. Obst, Gemüse, Fleisch, Messer, Beile, Kerzen, einfach alles, was man zum Leben benötigte. Ein paar Stände hatten auch Kleider im Angebot. Erinya schlenderte durch die belebten Gassen und sah sich um. Für Frauen gab es nur wenig, was ihr gefiel. Meist wurden liebliche Kleider oder langweilige Kutten angeboten. Die Sachen für Männer waren ihr allesamt zu groß. Dann kam sie an einen Stand, der Töpfe und Kochlöffel anbot. Diese waren Erinya egal, doch an einer Schnur hingen drei Umhänge, alle grob aus Schafsleder zusammengenäht. Der kleinste der Umhänge müsste ihr passen. Sie schlenderte am Stand vorbei und hielt Ausschau nach einem passenden Opfer. Die Frau, die gerade einen Sack Kartoffeln erwarb? Oder die Frau etwas weiter hinten, die sich gerade nach einer Kerze in einem Korb bückte? Nein, Erinya sah jemand Besseres. Ein Mann drückte einem Händler gerade ein paar Münzen in die Hand. Als Gegenleistung bekam er ein Paar beschlagener Stiefel überreicht. Der Mann gab sein Säckel mit Münzen zurück in die Jackentasche, klemmte die Stiefel unter den Arm und machte sich davon. Erinya ging ihm nach. Nichts überstürzen, der Moment musste passen. Sie passierten Stand um Stand. Zu lange dufte Erinya nicht warten, es musste noch hier am Markt geschehen. Hier, wo viele Leute waren und es nicht auffiel. Da. Es wurde eng in der Gasse. Eine Frau mit einem Kind an der Hand kam dem Mann wenige Schritte vor Erinya entgegen. Auf der anderen Seite machte ein angeleinter Esel die Gasse eng. Nun musste es geschehen. Erinya beschleunigte ihren Schritt und schloss zu dem Mann auf. Gerade, als er sich zwischen dem Esel und der Frau hindurchzwängte, stieß Erinya mit ihm zusammen. Seine neuen Stiefel fielen auf das Kopfsteinpflaster. »Verzeihen Sie, guter Herr. Ich habe nicht aufgepasst.« sagte Erinya und wollte die Stiefel hastig aufheben. Der Mann stieß sie weg. »Lass die Finger von meinen Stiefeln! Verschwinde!« knurrte er. Erinya entschuldigte sich nochmals ergebenst und eilte davon. Darauf bedacht, dass niemand das kleine Säckel sah, welches sich eben noch in der Tasche des Mannes befunden hatte, und nun in ihrer Hand verborgen war. In einer ruhigen Ecke besah sie ihre Beute. Elf Silbermünzen. Das reichte für den Lederumhang und drei Monate Essen und Trinken. Eine fette Beute, Erinya schmunzelte. Zurück beim Stand mit den Töpfen und Kochlöffeln erwarb Erinya den Umhang und warf ihn sich umgehend über die Schulter. Er besaß sogar eine Kapuze, aber die wollte sie sich hier am Markt nicht ins Gesicht ziehen. Natürlich feilschte sie mit dem Händler über den Preis, alles andere wäre verdächtig gewesen. Zufrieden machte Erinya sich vom Markt. An einem der Stände ließ sie noch zwei Äpfel und ein paar Trauben mitgehen. Zwar besaß sie nun mehr als genug Münzen, doch warum ausgeben, wenn man die Dinge umsonst haben konnte. Genüsslich den Apfel verspeisend trottete Erinya ziellos durch die Stadt. Sie kam an einen kleinen Platz, in dessen Mitte ein Baum aus dem Pflaster emporragte. Kaum jemand hielt sich hier auf, es war wohl eine ruhige Wohngegend der besseren Gesellschaft. Erinya wollte sich unter den Baum hocken, um den anderen Apfel und die Trauben zu essen, da hörte sie hinter sich eine Stimme. »Die Kirchen geben Speis und Trank an die Armen aus. Du brauchst nicht zu stehlen.« Erinya wirbelte herum und ließ beinahe den Apfel fallen. Eine Frau in weißen Kleidern stand vor ihr. Sie trug einen Reif mit einem beinahe transparenten Edelstein. Kragen, Ärmel und Taschen waren golden paspeliert. Sie wirkte erhaben wie eine Königin, doch es konnte sich unmöglich um Herrscherin Lumissa handeln. Schon allein deswegen nicht, weil die Frau zwei gekreuzte Schwerter auf ihrem Rücken trug. »Ich habe dich beobachtet.« sagte die Frau, »Gib mir die Münzen, dann werden wir sie gemeinsam dem Mann zurückgeben, dem du sie gestohlen hast.« Erinya schüttelte den Kopf. Aus den Augenwinkeln erkannte sie eine Seitengasse, in die sie sogleich flüchten würde. Doch etwas an der Frau sagte Erinya, dass sie nicht so leicht abzuschütteln sein würde, wie die Soldaten. »Den Apfel und die Trauben kannst du behalten. Aber den Umhang müssen wir zurückgeben.« sagte die Frau und kam langsam auf Erinya zu. »Du überlegst gerade, ob du es schaffen kannst, mir zu entfliehen.« fuhr die Frau fort, »Sei versichert, das kannst du nicht. Wir Priesterinnen des Al’Ankh Than vermögen das Schwert ebenso zu führen wie das Wort. Körper und Geist bilden eine Einheit. Wenn du zwei Schritte machst, mache ich acht. Versuche es nicht, mein Kind, und erfahre meine Güte. Denn die Al’Ankh Than helfen den Schwachen und bekämpfen das Böse.« Erinya erwog ihre Möglichkeiten. Die Frau war schlank und kräftig. Und obwohl ihre Kleider äußerst edel waren, wirkten sie gleichzeitig funktional ausgerichtet. Noch nie hatte Erinya derartig aufwendig gestaltete Kleider gesehen. Aber was würde die Priesterin, wer auch immer die Al’Ankh Than sein mochten, mit ihr anstellen? Als die Priesterin einen weiteren Schritt auf Erinya zuging, wich diese erneut nach hinten aus. »Was wirst du mit mir machen?« »Nachdem wir die Sachen zurückgegeben haben, führe ich dich zu meinen Brüdern und Schwester. Diese werden dir zu essen und zu trinken geben. Und einen Umhang werden wir für dich auch finden.« Und keine Strafe für die Diebstähle? Sie würde Erinya nicht der Stadtwache übergeben? Wenn sie dem Mann tatsächlich seine Münzen zurückbrachten, würde er doch als erstes nach der Wache rufen. Kurz blickte Erinya in die Gasse, die nach links wegführte. Doch nur zum Schein, gleich würde sie in die entgegengesetzte Richtung loslaufen. Immer noch hielt sie den Apfel in der Hand. Mit einer ansatzlosen Bewegung warf sie ihn der Priesterin in das Gesicht und sauste in die Gasse zu ihrer Rechten. Sie kam keine fünf Schritte in die Gasse hinein. Mit Leichtigkeit fing die Priesterin den Apfel und holte Erinya ein. Sie packte sie an der Brust und drückte sie gegen die Hausmauer. Erinya stöhnte auf. Der feste Griff raubte ihr den Atem und sie schlug sich den Hinterkopf an. »Wir kennen Gnade ebenso wie Unbarmherzigkeit. Es liegt an dir, welchen Pfad du beschreiten willst.« sagte die Priesterin. »Lass mich los!« rief Erinya. Ihre Bemühungen, sich loszureißen, waren vergebens. »Bitte um Gnade, und ich lasse Gnade walten. Sonst muss ich dich der Wache übergeben, welche irdische Gerechtigkeit über dich sprechen wird.« sagte die Frau. »Lass mich los!« brüllte Erinya. Sie versuchte, der Priesterin ins Gesicht zu schlagen, doch es gelang ihr nicht. Immer wütender zappelte sie und schlug mit den Beinen, aber nichts wollte helfen. »Nun gut, so sei es denn.« sagte die Priesterin. Sie packte Erinya an der Gurgel und schnitt ihr die Luft ab. Mit der anderen Hand fischte sie das Säckel mit Münzen aus Erinyas Tasche. Dann schleuderte sie Erinya zu Boden. »Muss ich mir auch deinen Umhang holen oder willst du ihn mir geben?« Kaum noch lag Wohlwollen in der Stimme der Priesterin. Erinya spuckte einen Fluch zur Priesterin und kroch rücklings von ihr weg. »Worte vermögen dir nicht zu helfen. Auch keine derart schwarzen, wie du sie eben gebrauchtest.« sagte die Priesterin unbeirrt. Hinter ihr ragte der Baum auf dem kleinen Platz empor. Als Erinya auf dem Pflaster fort kroch, konnte sie im Hintergrund, halb von der Priesterin verdeckt, den Baum sehen. Seine Blätter schmolzen zu Teer und tropften auf das Pflaster. Sein Stamm bekam Risse, die Rinde vermoderte und bröckelte ab. Vom Platz aus breitete sich ein Schatten über die Hauswände aus. Wie Pech rann er durch die Ritzen der Pflastersteine, unter den Füßen der Priesterin und unter Erinya hindurch. Die Priesterin drehte sich zum Platz um. Der Baum stand nun in einer Pfütze aus stinkendem Teer. Schimmel blätterte von den umliegenden Hauswänden ab. Ein dunkler Schleier verhing das Tageslicht mehr und mehr. Die Priesterin zog ihre Doppelschwerter, ließ sie kunstvoll in ihren Händen kreisen und bezog Kampfposition. Dazu sprach sie ein heiliges Mantra in einer Sprache, die Erinya noch nie gehört hatte. »Deine Schwerter vermögen hier nichts zu schneiden!« rief Erinya, »Laufe, wenn du leben willst!« Mit einem Satz war Erinya auf den Beinen und rannte fort. Einfach weg von diesem Platz, wo sich die Dunkelheit mehr und mehr breitmachte. Als sie um die erste Ecke lief, hörte sie die Priesterin schreien. Nichts als Entsetzen lag in diesem Laut. Er währte nur kurz und endete abrupt. • Fünf Die Nachricht ereilte Firssa in der Waschküche. Sie schrubbte ein Leintuch in einer Wanne. In einer Ecke waren Initialen eingenäht, es musste einem wohlhabenden Bürger gehören. Plötzlich kam ein Mann durch das Tor gelaufen. Es war einer der Wäscher, die während der Nacht arbeiteten. Die Wäscherei ruhte zu keiner Stunde. »Es hat begonnen!« rief er immer wieder, »Es hat begonnen! Auch Dalgur ist verloren!« Die Wäscherinnen und Wäscher ließen von der Arbeit ab und versammelten sich um ihren Kollegen. Er erzählte von der Priesterin, die vor weniger als einer Stunde unweit des Marktes von der Dunkelheit geholt worden war. Er erzählte von dem Platz, der zu Schleim zerflossen und vom Schimmel zerfressen war. Er erzählte von dem Baum, aus dessen Überresten unentwegt eine stinkende, dampfende Brühe rannte. »Auch hier sind wir nicht sicher. Was sollen wir bloß tun?« klagte er. Firssa ging zu ihrer Wanne zurück und ließ sich auf den Hocker daneben fallen. Die beschwerliche Reise nach Dalgur war also umsonst gewesen. Die Dunkelheit würde sie nun einholen. Verflucht sei das Licht. Warum ließ es sie im Stich? Kraftlos fasste sie das Leinen und schrubbte es. Doch welchen Sinn hatte das noch? Keine Bettstatt würde damit mehr bezogen werden. Selbst wenn, Dalgur war dem Untergang versprochen. Vielleicht könnten sie sich noch weiter nach Osten retten. Ein paar Tage erlösen bis zum Ende. Firssa warf das Leinen in die Wanne. Nein. Keine weitere Flucht. Sie würde hierbleiben und dem Ende ins Auge sehen. Bald würde sie wieder mit ihrer geliebten Tochter Dansala vereint sein, die ihr die Dunkelheit geraubt hatte. Ja, bald. Firssa verließ die Wäscherei und machte sich zu ihrem Karren auf, unter dem sie immer noch neben dem Stall hausten. In den Gassen begegnete sie vielen aufgeregten Menschen. Händler bauten ihre Stände ab, Fenster wurden verbarrikadiert, Türen verschlossen. Mehr Soldaten als sonst patrouillierten durch die Gassen, und auch einige Priester waren zu sehen. Am Karren angekommen, setzte sie sich auf einen Stuhl und wartete. Die Stunden vergingen. Hier bei den Ställen schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Den Tieren war keine Aufregung anzumerken und hier kamen auch nur jene vorbei, die hier zu tun hatten. Brodin würde auch in einem der Ställe sein und ausmisten. Vielleicht wusste er noch gar nichts von dem Vorfall mit der Priesterin. Am Abend wäre noch früh genug, es ihm zu erzählen. Nach einer Weile näherte sich eine Frau, ihr Gesicht war unter einer Kapuze verborgen. Der Umhang war aus vielen Fetzen Leder zusammengenäht. Die Frau blieb vor dem Karren stehen und sah sich um. »Wo ist dein Mann?« fragte sie schließlich. »Was willst du von Brodin? Wer bist du?« sagte Firssa. Die Frau zog die Kapuze nach hinten. Firssa kniff die Augen zusammen, dann erkannte sie sie. »Was willst du hier?« fragte sie mit unverhohlener Abneigung. »Brodin muss mir helfen.« sagte Erinya. »Er hat schon genug für dich getan. Lass uns in Frieden.« »Ich habe nicht darum gebeten, von euch hierher gebracht zu werden.« gab Erinya zornig zurück, »Ich muss die Stadt verlassen. Brodin muss mich durch das Tor bringen.« Firssa lachte auf. Das Schicksal schien mit bösartigem Humor geschlagen zu sein. Zuerst nahm es ihnen die Tochter, und dann setzte es ihnen dieses undankbare Gör vor, das ihre Rettung nicht zu schätzen wusste. »Willst du dem Ende davonlaufen?« sagte Firssa belustigt. »Nein ... Ich ... Darum geht es nicht. Wo ist Brodin?« »Du hast Angst bekommen, weil diese Priesterin von der Dunkelheit verschlungen wurde, nicht wahr, meine Kleine?« »Nenn mich nicht Kleine! Mein Name ist Erinya!« Wütend ging sie vor dem Karren auf und ab. Firssa sah ihr von der Ladefläche aus zu, wo sie auf ihrem Stuhl hockte. »Brodin hat erzählt, du kämst aus Chamran. Wie hast du es geschafft, von dort zu fliehen? Bist du dort auch bei den ersten Anzeichen von Gefahr einfach losgerannt?« Firssas Lippen verzogen sich zu einem hässlichen Schmunzeln. Erinya blieb stehen. »Halt den Mund!« rief sie, »Was weißt du schon über mich? Du hast nicht die geringste Ahnung, was ich alles durchstehen musste!« »Ach.« höhnte Firssa. Das Gesicht ihrer Tochter Dansala erschien in ihrer Erinnerung. Was wusste das dumme Gör schon, was sie und Brodin alles durchgestanden hatten. Erinya ballte die Hände zu Fäusten. Sie hatte genug. Von dieser Frau, von dieser Stadt, von allem. Sie zog sich die Kapuze tief ins Gesicht und wollte gehen. Nach zwei Schritten machte sie jedoch Halt. »Du glaubst noch an deine Himmel, nicht wahr?« sprach sie über die Schulter zurück. »Was?« sagte Firssa. »Die Himmel. Du glaubst noch an sie. Das tust du doch, nicht wahr? Aber deine Himmel sind leer. So lange habe ich sie angefleht. Ich habe gefleht und gebettelt. Um Hilfe, Freiheit, Erlösung. Nichts. Nicht ein einziges Wort. Die Himmel sind leer. Aber die Abgründe sind es nicht.« Dann ging Erinya fort. Verstört blickte Firssa ihr nach. Aus dem Kuhstall wehte ein fauliger Geruch über die Gasse. • Sechs Friedlich floss die Yunna zwischen den Häusern hindurch. Eine verzierte Holzbrücke mit kunstvoll eingeritzten Friedenssymbolen umspannte sie. Von einem großen Stein, der halb aus dem Wasser ragte, war leises Plätschern zu hören. Ab und an sauste ein Fisch vorbei. Doch Erinya hatte kein Auge für die Schönheit des Flusses. Sie blickte auf das Eisengitter, das den Flusslauf versperrte. Beinahe armdick waren die Streben. Die Yunna floss im Süden nach Dalgur hinein und verließ die Stadt im Nordosten. Rings um Dalgur waren hohe Stadtmauern errichtet. Um zu vermeiden, dass Feinde über die Yunna eindrangen, war ihr Lauf an beiden Enden, dort wo sie durch eine Öffnung der Stadtmauern floss, mit Eisengittern versperrt. Fische konnten hindurch, Menschen nicht. So war Erinya auch dieser Weg aus der Stadt versperrt. Durch das Tor konnte sie nicht. Die Soldaten hatten sie bereits einmal abgewiesen, und nun, nach dem Vorfall mit der Priesterin, würde das Tor wohl dauerhaft verschlossen bleiben. Auch wenn das keinen Sinn machte, die Dunkelheit benötigte keine Einfallstore. Aber was wussten schon die Törichten. Erinya ließ sich am Ufer nieder und vergrub das Gesicht in den Händen. Warum hatte dieser Tölpel von Brodin sie bloß aufgelesen und hierher gebracht? Aus Dalgur gab es kein Entrinnen. Wäre es nach seiner Frau gegangen, wäre Erinya nun immer noch draußen und würde über die Lande streichen. Oder wäre erfroren. Beides wäre besser, als hier eingesperrt zu sein. Dabei wollte Erinya doch gar nicht fliehen. Sie wollte wegen all der Menschen hier weg. Sahen sie es denn nicht? Nein, wie sollten sie. Eine Träne zwängte sich durch Erinyas Finger. Sie war aus Chamran entkommen, doch um welchen Preis? Um welchen verfluchten Preis? Lautlos schluchzte sie. Ihre Brust bebte. Aber um Chamran war es ihr nicht leid. Die Stadt hatte bekommen, was sie verdient hatte. Erinya schob den linken Ärmel ihres Gewandes bis zur Schulter hinauf. Verflucht seien sie alle. Jeder Einzelne von ihnen. Diejenigen, die ihr all die Hiebe und Schnitte zugefügt hatten, all das Leid und die Qualen, sie alle würden auf ewig in der Dunkelheit vergehen. Erinya ballte eine Faust und presste die Kiefer aneinander. Keiner von ihnen würde jemals wieder das Licht sehen. Verdammt seien die Himmel. »Verdammt seid ihr! Ihr alle!« schrie Erinya aus voller Brust. Niemand war ihr zur Hilfe gekommen. Niemand hatte sich um sie gekümmert. Niemand hatte Anteil genommen. Nein, niemand. Doch dann war ihr Flehen erhört worden. »Verdammt seid ihr alle.« hauchte Erinya. Es klang wie eine Feststellung. Einen letzten Versuch würde sie unternehmen. Einen letzten Versuch, aus der Stadt zu gelangen. Als sie ging, bemerkte sie nicht, dass sich das Gras an den Ufern der Yunna zu schwarzem Schleim verwandelt hatte. Das Wasser war trübe geworden und verströmte einen beißenden Gestank. • Artek war auf dem Weg zum Tempel. Die Priesterinnen und Priester des Al’Ankh Than kamen zusammen, um über das Unheil zu beraten, das Dalgur befallen hatte. So wie sämtliche Ländereien des Reiches. Sie mussten beten und meditieren. Das Licht würde ihnen den Weg weisen. Wenn nicht das Schwert, so musste das Wort die Dunkelheit doch brechen können. Sein weißer Mantel wehte auf, als er um die Ecke eilte. Seit langen Jahren würde der Ankh G‘arbhat, der heilige Rat der Priesterschaft, erstmals wieder tagen. Es galt, die Mächte des Lichts zu bündeln, um die Dunkelheit zu zerschmettern. Es war die letzte Hoffnung. Bald war er beim Tempel, Artek konnte die goldenen Dächer bereits sehen. »Priester.« sprach ihn plötzlich eine Stimme von der Seite an. Artek fuhr herum. Eine junge Frau in einem Kapuzenumhang stand einsam in der Gasse. Hier, im heiligen Quartier hielten sich meist nur wenige Leute auf. Besonders in dunklen Zeiten wie diesen, wenn sich alle in ihren Behausungen versteckten, war es ungewöhnlich, hier jemand anzutreffen. »Was ist, Mädchen?« »Mein Name ist Erinya.« »Ich habe nicht viel Zeit. Was ist dein Begehr?« Erinya kam näher. »Ich benötige deine Hilfe, Priester. Ich muss die Stadt verlassen. Aber man lässt mich nicht.« »Aus gutem Grund. Draußen vor den Mauern herrscht die Dunkelheit. Du würdest in dein Verderben laufen. Was willst du außerhalb von Dalgur?« »Ich habe gute Gründe, die Stadt zu verlassen. Du musst mir vertrauen, Priester.« Artek legte seine Hand sanft auf Erinyas Schulter. »Hab keine Angst. Die Al’Ankh Than kommen eben zusammen, um sich gegen die Dunkelheit zusammenzuschließen. Alles wird gut.« Erinya lachte. »Ich habe keine Angst. Nicht um mich.« sagte sie. »Was sprichst du da? Geh nach Hause.« »Du willst mir also auch nicht helfen. Ihr Priester habt Besseres zu tun, als sich um eine Frau zu kümmern, die um Hilfe bittet ... Nun gut. Ich verstehe. Dann geht und betet zu eurem Licht. Werft mir nicht vor, es nicht versucht zu haben. Werft mir bloß nicht vor, es nicht versucht zu haben.« Langsam ging Erinya rückwärts vom Priester fort. »Du sprichst wirres Zeug, Mädchen. Was treibt dich nach draußen, weg von Dalgur?« Erinyas Lippen verzogen sich zu einem grausigen Lächeln. »Geh und bete, Priester. Bete deine Himmel an. Auch deiner Schwester haben sie nicht geholfen. Auf dem Platz, nahe beim Markt.« Erinyas Gesicht versank mehr und mehr in der Dunkelheit der Kapuze, bis es nicht mehr zu sehen war. Rund um sie trübten schwarze Schleier die Gasse. Erschrocken wich der Priester zurück und zog sein Krummschwert. »Kannst du sie hören? Die Stille?« drang es kalt aus Erinyas Kapuze hervor, »Sie kommt mit der Dunkelheit. Fürchtet euch, denn ihr vermögt sie nicht aufzuhalten.« Wo Erinya gestanden hatte, war nur noch Schwärze. In der Gasse hatte sich ein Loch aufgetan, in dem nichts als Leere zu existieren schien. Wie eine dunkle Rauchwolke verzog sich die Leere allmählich und ließ das Pflaster und die Mauern zu stinkendem Teer verwandelt zurück. So schnell ihn seine Beine trugen, rannte Artek, das Schwert noch in der Hand, in den Tempel zu seinen Brüdern und Schwestern. • Sieben »So beeile dich doch! Wir müssen sehen, dass wir fortkommen!« Brodin zog Firssa hinter sich her. Gestern Abend schon, als sie ihm von der Priesterin erzählt hatte, die an diesem Platz der Dunkelheit anheimgefallen war, hatte eine seltsame Gleichmut seine Frau befallen. Heute, nach dieser Nacht, die keinem Tag gewichen war, schien Firssa sich dem Schicksal überantwortet zu haben. Keine Kraft lag mehr in ihr, sich der Dunkelheit zu stellen. Unablässig zog Brodin sie am Ärmel durch die Gassen, hin zum Tor, das sie aus Dalgur in die Freiheit entlassen würde. Auch vor den Toren mochte die Dunkelheit warten, aber die Stadt war nicht länger sicher. Schatten fraßen sich durch Gemäuer, Gestank verpestete die Luft und Fäulnis befiel die Brunnen. Die Sonne war von einem blutroten Schleier eingefangen, alles erstrahlte in schauderhaftem Halblicht. Aus dem Haus, an dem sie gerade vorbei eilten, drang ein Schrei. Brodin vermochte nicht zu sagen, ob er aus der Kehle eines Mannes oder eines Weibs gedrungen war. Eine Gestalt, schwarz wie Teer, torkelte ihnen entgegen. Ihr Fleisch war zu einer dampfenden, klebrigen Masse verfault und tropfte auf das schimmlige Pflaster. Verdammnis hatte sich auf Dalgur gesenkt. Sie mochten ihr vielleicht nicht zu entkommen, doch den Versuch mussten sie wagen. »Komm! Komm, meine geliebte Firssa! Ich flehe dich an!« rief Brodin. Mit ausdruckloser Miene trottete Firssa hinter ihm her. Was galt es schon zu retten? Ihr Fleisch war dem Verfall versprochen. Und wohin sollten sie schon fliehen? Dalgur war die letzte Bastion gegen die Dunkelheit gewesen. Hier wirkten die Al’Ankh Than. Hier befand sich die königliche Garde. Wo, wenn nicht hier, sollten sie Sicherheit finden? Nein, es gab keine Rettung. Sie erreichten den Friedensplatz. Er wurde so benannt, weil hier der Frieden von Kral Sabrant geschlossen worden war, zwei Dutzend Generationen zuvor. Dieser Friede hatte den dreizehnjährigen Thronfolgekrieg beendet und der Dynastie der Lorrakin die Herrschaft gesichert. Selbst wenn Brodin und Firssa über diese Historie Bescheid gewusst hätten, wäre sie ihnen nun gleichgültig. Unablässig zog Brodin seine Frau über den Platz. Vorbei am prächtigen Brunnen in seiner Mitte, von dem bestialischer Dampf aufstieg. Faulende Gestalten wanden sich auf dem Pflaster und torkelten umher. Brodin machte einen weiten Bogen um sie. Plötzlich vernahm er eine Stimme hinter sich. Er fuhr zusammen und wirbelte herum. »Ihr könnt nicht fliehen.« sagte die Stimme. Sie kam vom Brunnen. Am Rand des Brunnens, unter ebenso massiven wie grandiosen Skulpturen, saß eine dunkle Gestalt. Ihr Gesicht war von einer Kapuze verdeckt. Anstelle ihres Gesichts schien ein schwarzes Loch zu sein. »Ihr könnt nicht fliehen.« wiederholte die Gestalt, »Die Dunkelheit hat den Tag besiegt.« »Was sprichst du da?« stammelte Brodin. Firssa hing teilnahmslos in seinem Griff. »Die Dunkelheit. Siehst du sie denn nicht? All die Schatten? Wie sie schlingen und tilgen?« Die Gestalt lachte leise. Obwohl sie nun ihren Kopf Brodin zuwandte, vermochte er nichts unter der Kapuze zu erkennen. Aber er vermeinte, die Stimme schon einmal vernommen zu haben. Ja, er kannte die Stimme. Wem gehörte sie jedoch? »Wer bist du?« fragte er, »Wie kannst du dir so sicher sein, dass es keine Hoffnung mehr gibt?« Die Gestalt rutschte vom Brunnenrand und kam zwei Schritte auf Brodin und Firssa zu. »Woher ich meine Gewissheit nehme?« sagte sie, »Nun, weil ich mit eigenen Sinnen erlebt habe, wie die Dunkelheit eine ganze Stadt verschlungen hat. Damals, in Chamran. Und nicht nur dort. Nichts kann sie aufhalten.« »Erinya.« drang es wie ein Fluch aus Firssas Kehle. Brodin spürte, wie sie an Kraft gewann, nicht länger hing sie schlaff in seinem Griff. Sie straffte sich und starrte die Gestalt vor dem Brunnen aus hasserfüllten Augen an. Die Gestalt, die nicht Erinya sein konnte. Nicht jenes hilflose Mädchen, das Brodin am Wegesrand aufgelesen hatte. Und doch wusste er, dass es Erinya sein musste. »ERINYA!« kreischte Firssa, »Ich wusste, du bist des Teufels! Du, DU, DU HAST UNS DAS ANGETAN!« Erinya kicherte bloß. Firssa stürmte auf sie los. Was Brodin begonnen hatte würde sie nun beenden und Erinya dem Schicksal übergeben, dem sie eigentlich am Wegesrand versprochen gewesen war. Dunkler Rauch wirbelte um den Brunnen. Eiseskälte legte sich auf den Friedensplatz. Der Schleim in den Ritzen des Pflasters brodelte auf, spuckte klebrige Fäden und legte sich schließlich um Firssas Füße. Beinahe stürzte sie vorüber, Brodin stützte sie von hinten. In der Dunkelheit von Erinyas Kapuze leuchteten zwei Rubine auf, die in einer Esse zu glühen schienen. Der Schleim kroch Firssas Beine empor, drang in ihre Scham und Eingeweide, legte sich um ihren Körper. Firssa schrie und versuchte mit aller Kraft, den Schleim von ihrem Körper zu kratzen. Entsetzt wich Brodin zurück. »Ich habe all das nicht gewollt. Nichts von alledem.« Kaum noch lag Menschliches in Erinyas Stimme, »Ich habe bloß jene bestrafen wollen, die mir all das Leid angetan haben. Rache nehmen an jenen, die mein Leben zur Hölle gemacht hatten. Gebetet habe ich. Gefleht! Ich habe die Himmel beschworen und ihnen alles versprochen, nur um ein bisschen Hilfe! GEFLEHT HABE ICH! TAG UM TAG, NACHT UM NACHT!« Der vom Brunnen emporsteigende Dampf färbte sich blutrot. Firssa war nun vollständig vom Schleim gefangen, nur ihr Gesicht war noch frei. »Gefleht habe ich. Lange Jahre lang. Und weißt du, was mir die Himmel geantwortet haben? Weißt du das, Firssa? WEISST DU DAS?« Erinyas Augen loderten auf. »Ich verrate es dir.« sagte sie, »Nichts. Absolut nichts. Keine Antwort. Kein Zeichen. Kein Schimmer von Hoffnung. Absolut nichts. Deine Himmel, Firssa, deine so heiligen Himmel, haben mich meiner Welt von Schmerz und Leid überlassen. Und ich habe sie dafür verflucht. Aus meinem Flehen wurde Hass. Ich verfluche deine Himmel, Firssa. Aber das spielt letztlich keine Rolle, denn die Himmel sind leer. Dort oben ist nichts und wird auch nie etwas sein. Aber weißt du was, Firssa? Soll ich dir etwas verraten? Mein Flehen wurde schließlich doch erhört. Ja, ganz recht. Etwas hat mein Flehen erhört. Etwas, tief unten in den Abgründen, verborgen in der Dunkelheit.« »Erinya! Bitte lass ab! Bitte lass Firssa gehen!« Brodin fand wieder Worte. »Gehen? Wohin denn? Draußen vor den Toren Dalgurs herrscht nun nichts als Dunkelheit. Und auch hier wird sie bald alles befallen haben ... Oh, du Narr. Warum musstest du dich bloß meiner annehmen und mich hierher bringen?« »Hör bitte damit auf, Erinya!« flehte er, »Bitte hör auf! Nimm mir nicht auch noch meine Firssa!« »Das tue ich auch nicht. Das tun die Schatten. Sie vertilgen alles und jeden. Ich kann sie nicht aufhalten. Das vermochte ich nie. Ich habe sie bloß gerufen.« Erinya lachte, »Und wie ich sie gerufen habe. All die wertlosen Leiber in Chamran, all der Abschaum wird auf ewig in der Dunkelheit verfaulen. Oh ja, ich hatte meine Rache. Sie schmeckt so süß wie man sagt. Aber ich habe etwas gelernt, mein lieber Brodin. Man sollte die Dunkelheit nicht anrufen, wenn man nicht weiß, was im Schatten lauert.« An Erinyas Umhang, ihren Hosen und ihrer Bluse begannen sich glühende Risse zu bilden. Überall dort, wo ihr Körper von Narben gezeichnet war. Bald brannten sie zu fingerdicken Löchern, unter denen ein Feuer zu lodern schien. »Was ... Was meinst du damit?« sagte Brodin. »Ich kann es nicht mehr rückgängig machen. Ich kann die Dunkelheit nicht zwingen. Und ich will es auch gar nicht mehr. Ich bin gerannt und habe versucht, von ihr zu fliehen, um die Menschen vor ihr zu retten. Alles vergeblich. Diese Welt wird untergehen. Dann wird Stille herrschen. Und es wird gut sein.« Brodin versuchte, den Schleim von Firssa zu reißen. Mit aller Kraft krallte er seine Finger hinein, doch er neigte sich nicht seinem Bemühen. Vor seinen Augen wurde sie zerrissen, so langsam wie Laub im Herbst zu Boden fällt. Ihr Schreien verging erst, als der Körper beinahe vergangen war. Brodin sank zu Boden, seine Knie und Hände im stinkenden Matsch gefangen. Plötzlich schoss ein schleimiger Strahl aus dem Boden wenige Schritte hinter Erinya in die Höhe. Sie drehte sich um und sah einen Pfeil im Schleim stecken. Dann sah sie die Priesterinnen und Priester heran stürmen. Ein Schmunzeln legte sich um ihre Lippen. Abermals legte der Bogenschütze an und feuerte sogleich. Wieder fing eine schwarzes Schleimtentakel den Pfeil. Erinya erkannte den Priester Artek, den sie um Hilfe gebeten hatte. Er gab seinen Brüdern und Schwestern das Zeichen, ihre stählernen Waffen zu ziehen, wenn die hölzernen Pfeile nicht zu treffen vermochten. »Es beschützt mich. Ihr könnt es nicht aufhalten.« sagte Erinya, »Und ich kann es auch nicht.« Wie auf ein Stichwort hin durchbohrte ein schleimiges Tentakel den Bogenschützen, der gerade einen neuen Pfeil aus dem Köcher gezogen hatte. Erinyas Kleider waren nun fast völlig verbrannt. Ihre Narben glühten als würde das Fleisch darunter brennen. Die Al’Ankh Than formierten sich rund um sie. Erinya warf den Kopf in den Nacken, streckte die Arme von sich und drehte sich im Kreis. Zwei Al’Ankh Than stürmten los, um sie mit ihren Schwertern zu durchbohren. Sogleich lagen ihre toten Leiber auf dem stinkenden Boden, zerfetzt von der Dunkelheit. Einer nach dem anderen verging beim Versuch, Erinya auch bloß nahezukommen. Nur Artek war noch übrig. Beständig sein heiliges Mantra wiederholend hielt er sein Schwert schlagbereit. Erinya hockte sich wieder auf den Brunnenrand. Plötzlich wirkte sie müde. Artek sah seine Chance und stürmte los. Ein Tentakel nach dem anderen schoss aus dem Schleim. Sie durchbohrten seine Beine, den Torso, die Arme, und krallten sich an ihm fest. Bis auf eine Schwertlänge war er an Erinya herangekommen. Mit letzter Kraft holte er aus und ließ den Stahl herniedergehen. Da zerfloss dieser zu einer stinkenden Brühe und tropfte zu Boden, ehe er Erinya berührte. »Nun, Priester, wo sind deine Himmel?« sagte Erinya, als wäre nichts geschehen, »Wo ist das Licht, das euch so heilig ist? Ich kann es dir sagen, Priester. Es wurde von der Dunkelheit verschlungen. Warum betet ihr überhaupt das Licht an, wo es doch vergeblich gegen die Dunkelheit ankämpft? Die Dunkelheit ruht in sich, während das Licht beständig Kraft verbraucht, um zu scheinen.« Kaum noch konnte Arteks Körper das Leben darin festhalten. Erinya blickte in sein geschundenes Gesicht. »Die Dunkelheit, Priester, die Stille darin, sie wird meine Hölle sein.« sagte Erinya, »Denn sie lässt nicht ab von mir. Sie beschützt mich, aber nicht um meinetwillen. In bin dazu verdammt, in ihr zu sein, auf ewig.« Erinya rutschte vom Brunnenrand. Die letzten verkohlten Fetzen ihrer Kleidung zerfielen zu Asche. Nackt verließ sie den Platz, um die Straßen Dalgurs zu durchmessen, welche nun ihr dunkles Reich geworden waren. Plötzlich hielt sie inne. Ihr Mund öffnete sich, als wollte sie schreien. Ihre Beine vermochten keinen Schritt mehr zu tun. Ihre Arme waren zu knorrigen Ästen erstarrt. Sie sah an sich herab und konnte es nicht glauben. Eine Klinge hatte sie durchbohrt. Von hinten war sie mitten durch ihre Brust gedrungen und ragte nun eine Elle lang aus ihr heraus. Wie die Klinge glänzte. Und wie rein sie war. Stolpernd schaffte es Erinya, sich umzudrehen. Brodin stand vor ihr. Er musste das Schwert eines der gefallenen Priester genommen haben. In seinem Gesicht hingen Tränen. Auch sie glänzten wie Edelsteine und zogen blendende Bahnen auf seinen Wangen. Seine Augen waren so traurig. Und doch lag etwas in ihnen, was Erinya schon so lange nicht mehr gesehen hatte, dass sie es beinahe nicht erkannte. Brodins Blick war warm, zärtlich beinahe. Erinya taumelte nach hinten und sackte auf die Knie. War das ein Sonnenstrahl, der sich auf den Platz senkte? Ehe die letzte Kraft aus Erinyas Körper wich, befiel sie unendliche Verzweiflung. Nein, die Himmel waren nicht leer. Sie hatten nur keinen Platz für sie.